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Die kostenlosen Revolutionen der Medizin

Impfen, Antibiotika, Immuntherapie – einige Ideen haben die Medizin nachhaltig revolutioniert und sehr viele Menschen gerettet – oder genauer gesagt: sie haben viele zusätzliche gesunde Lebensjahre ermöglicht (gerettet wurde bisher meines Wissens langfristig gesehen noch niemand).

Heuer wird eine HIV-Prophylaxe als Durchbruch des Jahres gefeiert. Und so beeindruckend das sein mag, verglichen mit früheren Erfolgen ist das keine so große Revolution mehr. Heute geben wir teilweise extrem viel Geld aus, um das Lebensende um ein paar Monate zu verschieben, Erfindungen, die bei sehr vielen Menschen einen sehr großen Effekt haben, sind dünn gestreut.

Das ist nicht überraschend, wir wissen schon viel, neue Erkenntnisse kommen in kleinen Schritten. Das ist auch ganz ok so. Überraschend ist hingegen, dass es sehr einfach denkbare Revolutionen in der Medizin gibt, die einen ganz enormen Effekt hätten. Und sie wären sogar kostenlos bis gewinnbringend. Noch besser: Das gesamte dafür notwendige Wissen ist bereits da! Blödsinn, dann würden wir das doch längst machen, oder?

Vielleicht sollte ich langsam zur Sache kommen, bevor wir in die Diskussion einsteigen, warum diese Revolutionen noch nicht laufen.

Beginnen wir mit der einfachsten Revolution:

Therapietreue (Niemand schluckt richtig)

Haben Sie schon einmal ein Medikament verschrieben bekommen und bereits beim Verlassen der Ordination gewusst, dass sie es sowieso nicht nehmen werden? Damit sind sie nicht allein. Die Therapietreue ist das Maß in wie fern Patient:innen Medikamente so einnehmen wie sie verschrieben wurden. Laut WHO liegt sie über alle medikamentösen Therapien gesamt bei rund 50%. Und zwar in entwickelten Ländern.

Diese Therapie-Untreue heißt: Selbst wenn alles bis hin zur Verschreibung perfekt gelaufen ist, war alles umsonst – aber leider nicht gratis. Vom Gespräch, über Laboruntersuchungen bis zu bildgebende Verfahren, alles für die Katz. Arzt/Ärztin und Patient haben sich Zeit genommen, die richtige Diagnose gestellt, die richtige Therapie gefunden und dann – alles umsonst, weil die Hälfte der Patient:innen die Medikamente nicht richtig schlucken. Die Folgen sind genau so drastisch wie es zu erwarten ist: Enorme Kosten auf Seiten des Gesundheitssystems, schlechtere Gesundheit und erhöhte Sterblichkeit auf Seiten der Patienten (Details zB hier).

Ich bin natürlich nicht das erste Genie, dem das auffällt, das Problem ist lange bekannt und wird intensiv beforscht (ein Beispiel). Wir kennen ein paar Maßnahmen, welche die Therapietreue verbessern. Wenn man jedoch den Stand von 2007 mit der aktuellen Situation vergleicht, scheint sich nicht besonders viel getan zu haben. Wir wissen, dass eine gute Arzt-Patienten-Beziehung eine Rolle spielt, aber ich fürchte wir müssen hier mit beiden Seiten deutlich schärfer ins Gericht gehen, sonst wird sich hier weiterhin nichts ändern. Die evidenzbasierte Medizin strebt hier die gemeinsame Entscheidungsfindung als Lösung an. Mir ist das zu friedlich, ich finde beide Seiten müssen hier einen völlig anderen Grad an Offenheit erreichen: Von Arztseite: Aufklären, Nachfragen bis klar ist, das alles verstanden wurde und die Bereitschaft und auch die Fähigkeit zur Therapietreue gegeben sind. Ist das nicht der Fall: Nicht verschreiben! Von Patientenseite: Sagt gefälligst, wenn ihr etwas nicht nehmen wollt! Patienten lügen ihre Ärzte dauernd an, aus verschiedensten Gründen. Lasst das.

Schwieriger ist die Sache mit der Fähigkeit zur Therapietreue: Vergesslichkeit ist ein häufiger Grund, warum Medikamente nicht korrekt eingenommen werden. Doch auch hier liegt es in der Verantwortung von Arzt und Patient sicherzustellen, dass Therapietreue möglich ist. Wer merkt, dass es ein Problem damit gibt, muss dies schnellstmöglich ansprechen.

Wenig überraschend geht es also um Kommunikation und Gesundheitskompetenz. Beides muss auf beiden Seiten massiv verbessert werden, dann wird diese Revolution stattfinden. (Schöner Fachartikel zB hier)

Disease Management Programme

Folgende Anekdote versuche ich seit Jahren in einem Text unterzubringen: Die österreichische Ärztekammer ruft zur Pressekonferenz, es geht um ein Programm zur systematischen Betreuung von Diabetespatienten. Hintergrund: Österreich hat eine enorm hohe Quote von Amputationen bei Diabetespatienten und ganz allgemein ist die Betreuung in Österreich alles andere als qualitätsgesichert.

Um dem Abhilfe zu schaffen haben engagierte Ärzte versucht, ein Disease Management Programm in Österreich besser zu etablieren. Solche Programme sollen sicherstellen, dass alle Patienten mit einer chronischen Erkrankung evidenzbasiert und qualitätsgesichert nach aktuellem Stand des Wissens behandelt werden. Solche Programme standardisieren Untersuchungen, beschreiben welche medikamentösen Therapien wann zum Einsatz kommen und haben eine Qualitätssicherung integriert. Aufgrund der genauen Dokumentation ist sichergestellt, dass sich Arzt/Ärztin und Patient:innen tatsächlich an das Programm halten. In vielen Ländern der Welt verbessern Disease Management Programme die Betreuung chronisch Kranker, von Diabetes bis zur Herzkreislauferkrankungen. Sie haben den Vorteil das Patient:innen nicht vom Kenntnisstand und Einsatzes ihres jeweiligen Arztes abhängig sind, sondern mit Sicherheit nach aktuellem Stand der Medizin behandelt werden.

Bei der Pressekonferenz waren Vertreter der Ärztekammer und auch einer jener Ärzte, der viele Diabetespatienten betreut und an dem Programm mitgearbeitet hat. Ziel war möglichst viele Ärzte davon zu überzeugen an diesem Programm teilzunehmen. Im Zuge des Gespräch kam heraus, dass jener Arzt der das Programm mit entwickelt hat es selber überhaupt nicht nutzt. Darauf angesprochen meinte er, er tue ja sowieso was in dem Programm vorgesehen sei. Dass er damit die gesamte Qualitätssicherung des Programms aushebelt und jedem anderen Arzt jegliche Motivation nimmt daran teilzunehmen, schien niemandem der Veranstalter klar zu sein. Von rund 800.000 Diabetespatient:innen in Österreich werden aktuell 131.295 in dem Programm betreut.

Ärzte schätzen ihre Freiheit, sie studieren rund ein Jahrzehnt um kompetent zu sein. In vielen Punkten klappt das, aber manchmal eben nicht. Die Zahlen zu chronischen Erkrankungen in Österreich beweisen seit Jahrzehnten, dass die Betreuung teuer und schlecht ist. Vielleicht ist die Ausbildung in dem Bereich nicht gut genug, vielleicht ist die Abrechnung schlecht geregelt – und vielleicht muss man gelegentlich auch bestens ausgebildeten Ärzten einen Teil ihrer Freiheiten eindämmen und ihnen klipp und klar sagen, was sie zu tun haben.

Zuhören

Ärztinnen und Ärzte arbeiten oft unter enormen Zeitdruck. Kein Wunder, dass sie versuchen möglichst effizient zu sein. Beim Versuch Zeit zu sparen, passiert oft ein erstaunlicher Fehler: Sie hören nicht zu. Sobald sich die erste Idee einer Diagnose manifestiert, wird unterbrochen, je nach Quelle passiert das bereits nach 20 Sekunden. Oder es gibt überhaupt kein Gespräch, weil die Laborwerte oder die bildgebenden Verfahren schon in eine Richtung weisen. Dieses rasche Unterbrechen bzw. die mangelnde Gesprächszeit überhaupt führt zu dem bereits geschilderten Problem der mangelnden Therapietreue. Und: Es führt zu schlechten Diagnosen. Und das ist vollkommen unnötig – Patient:innen reden im Schnitt gar nicht besonders lange – auch hier je nach Studie 30 Sekunden bis maximal etwas über drei Minuten. Würden Ärztinnen und Ärzte ihren Patient:innen zu Beginn einfach zirka 1:30 Minuten ohne Unterbrechung zuhören, wäre die Medizin eine besser.

Auch das ist nicht neu. Wir wissen schon Jahrzehnte darüber Bescheid und wir wissen seit Jahrzehnten, dass es den Patient:innen, also uns allen, schadet.

Zwei dieser drei kostenlosen Revolutionen scheitern an der Kommunikation. Während die Medizin laufend enorme Fortschritte macht, scheitern wir an der Basis der Medizin: Am Miteinander reden. Wir bekommen die PS nicht auf den Boden – was Innovation und den gesamten Medizinapparat in einigen Punkten ad absurdum führt. Das Ergebnis ist ein unglaublich teures System, dass im internationalen Vergleich schlecht abschneidet, wenn es darum geht und möglichst viele gesunde Lebensjahre zu ermöglichen.

Die Ausbildung von Mediziner:innen ist überwältigend, ich möchte den Studienplan nicht zusammenstellen müssen, die Fülle an notwendigem Wissen ist endlos. Was also tun: Fehler, die an der Basis passieren, sind die folgenschwersten. Wenn Ärztinnen und Ärzte nicht kommunizieren können, baut jeder weitere Schritt auf einem dünnen Fundament auf – oder geht gleich komplett daneben.

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